Erstaunliche Entdeckungen Understand article
Übersetzt von Veronika Ebert. Untersuchungen mit der Raciocarbonmethoden helfen Forscher/innen zu verstehen, wie Neuronen einerseits stabil, aber dennoch anpassungsfähig sein können.
Am 30. Oktober 1961 wälzte sich eine pilzförmige Wolke, mehr als siebenmal höher als der Mount Everest, über Novaya Zemlya, einem Archipel der Barentsee, himmelwärts. Sie war das sichtbare Zeichen der sowjetischen Zar-Bombe, mit 50 Megatonnen die größte Atombombe, die jemals detonierte. Ihre physikalische Schockwelle zerstörte 900 km weit entfernte Fensterscheiben. Noch größer waren allerdings die politischen Folgen: diese Explosion trieb die politische Vereinbarung über den Stopp von oberirdischen Atombombentests entscheidend voran. Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, erkennen Wissenschaftler/innen des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg, Deutschland auch positive Aspekte dieser dunklen Ära des kalten Krieges: Radioaktiver Kohlenstoff, eine harmloser Bestandteil des Fallouts dieser Tests, ermöglicht Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns.
Die am EMBL tätige Wissenschaftlerin Kyung-Min Noh und ihre Kollegen/innen in den USA untersuchen die Verteilung radioaktiven Kohlenstoffs, um zu verstehen, wie unsere Neuronen, die langlebigsten Zellen unseres Körpers stabil bleiben, und trotzdem flexibel genug sind, um uns ein Leben lang das Lernen, die Erinnerung und das Denken zu ermöglichen. Die Forscher/innen hoffen auch, dass ihre Arbeit neue Sichtweisen auf Entwicklungsdefekte des Gehirns ermöglicht, wie z.B. auf Autismus, und möglicherweise auch andere Erkrankungen wie die Alzheimerkrankheit.
Radiocarbonuntersuchungen
Kohlenstoff bildet das Grundgerüst aller biologischen Moleküle unseres Körpers. Fast der gesamte Kohlenstoff liegt in seiner „normalen“ Form, 12C vor. Das schwach radioaktive Isotop 14C ist geringfügig schwerer und kommt in der Natur in vergleichsweise geringen Mengen vor, und. Zwischen 1945 und 1963 wurden durch oberirdische Atomversuche Unmengen von radioaktivem 14C menschlichen Ursprungs in die Atmosphäre freigesetzt, weit mehr als die natürlich vorkommenden Mengen. Da das Isotop weltweit über die Nahrungskette verbreitet worden ist, haben in dieser Ära lebende Menschen, viel mehr 14C in ihren Körper aufgenommen haben als normalerweise. Als sich die in der Atmosphäre vorhanden Menge wieder den Normalwerten annäherte, wurde der aufgenommene 14C im Zuge der Zellerneuerung wieder schrittweise durch normalen Kohlenstoff ersetzt.
Da verschiedene Teile des Körpers mit unterschiedlicher Geschwindigkeit erneuert werden, können Wissenschaftler/innen durch Messung des 14C-Isotops im Gewebe von Menschen, die die Ära der Atombombentests erlebt haben, feststellen, welche Zellen wie häufig erneuert worden sind. Diese Technik ermöglichte Forscher/innen aus Schweden und der USA vor 10 Jahren die Entdeckung, dass Neuronen in bestimmten Gehirnregionen laufend erneuert werden, während jene in anderer Regionen genauso alt sind wie der Mensch, in dem sie sich befinden, da ab der Geburt keine Regeneration mehr erfolgt.
Enthüllung der Geheimnisse von Zellen
Einen Teil der Antwort liefert die DNA der Neuronen. Diese DNA enthält Gene, die die Neuronen instruieren kleine molekulare Maschinen, die Proteine genannt werden, herzustellen. Sie ermöglichen den Neuronen, ihre Funktion zu erfüllen. Obwohl jede Zelle unseres Körpers die gleichen Gene enthält, verwendet jeder Zelltyp ein unterschiedliches Subset dieser Gene zur Entwicklung seiner zelltypspezifischen Funktion. Das bedeutet, dass in jeder Zelle bestimmte Gene aktiv sind und andere inaktiv bleiben.
Eine Möglichkeit für Zellen das zu bewerkstelligen ist die Art und Weise der DNA-Verpackung. Statt wie ein chaotisches Knäuel herumzuschwimmen, ist die DNA um bestimmte Proteine, die Histone, herumgewickelt, wie Locken um unzählige kleine Lockenwickler. Inaktive DNA ist normalerweise eng gewickelt, während DNA mit aktiven Genen eher lose aufgewickelt ist, und daher für die zelleigene Genablesemaschinerie besser zugänglich ist. Eine riesige Armee anderer Proteine unterstützt die Histone bei der Regulation der Gene. Kyung-Min hat bereits während ihrer Doktorarbeit am Albert Einstein College of Medicine in New York (USA) begonnen, sich für dieses Forschungsgebiet, die Biologie der Histone, zu interessieren. Bei der Untersuchung der Auswirkungen eines Schlaganfalls auf das Gehirn von Ratten fand sie ein Protein, das die Histone in vom Schlaganfall betroffenen Neuronen verändert. Im Anschluss begann Kyung-Min zu untersuchen, was mit Histonen in Zellen passiert, die ihre Teilung für immer eingestellt haben, Neuronen waren für diese Studien die logische Wahl. Die Wissenschaftler/innen wussten zu diesem Zeitpunkt bereits, dass sich aktiv teilende Zellen normale, sogenannte „kanonische“ Histone verwenden, während Zellen, die vor der nächsten Zellteilung einlegten, eine veränderte Variante von Histonen enthalten. Allerdings war nur wenig über die Histone von Zellen bekannt, die dauerhaft aufgehört hatten, sich zu teilen.
Da die Histonvariante vor allem mit aktiven Regionen der DNA assoziiert sein dürfte, könnte sie eine ganz spezielle Rolle bei der Regulation der Genaktivität spielen. Diese Form der Kontrolle könnte für langlebige Neuronen besonders wichtig sein, die nicht nur ein lebenslang funktionierten müssen, sondern ihre Genaktivität auch in einer hochdynamischen Art und Weise verändern müssen um auf sich an ständig ändernde Umweltbedingungen anpassen zu können. Während ihrer Postdoc-Zeit an der Rockefeller Universität (USA). entdeckte Kyung Min und ihre Kollegen/innen, dass Neuronen, die ihre Teilungsaktivität eingestellt haben, tatsächlich die Histonvariante in ihrer DNA enthalten. Aber um wirklich zu verstehen, warum, musste geklärt werden, wann die Variante eingebaut wird: kontinuierlich in kleinen Schritten, oder alle gleichzeitig.
Datierung mit der Radiocarbonmethode
Um diese Frage am Menschen untersuchen zu können, bediente sich das Team der Radiocarbonmethode. Mit einer Technik, die als Beschleunigungmassenspektrometrie bekannt ist, war es möglich, zwischen der Histonvariante mit normalem Kohlenstoff und jener mit dem radioaktivem Kohlenstoffisotop zu unterscheiden. Sie fanden durch die Untersuchung pathologischer Proben von Menschen, die die Ära der Atombombentests erlebt haben, heraus, dass der Einbau der Histonvariante bereits vor der Pubertät erfolgt sein dürfte. „Dabei handelt es sich dabei um keinen kontinuierlichen Prozess“, erklärt Kyung-Min. Die intensive Erneuerung erfolgte bereits während früher Phasen der menschlichen Entwicklung, und das Gehirn erhält den Status Quo für die verbleibende Lebenszeit aufrecht.”
Das lässt vermuten, dass die Erneuerung der Histone ein lebenswichtiger Prozess in der Entwicklung des kindlichen Gehirns ist, der mit den Phasen dynamischer Lernprozesse zusammenfällt, erklärt sie. Und außerdem haben neuere genetische Forschungsarbeiten eine größere Zahl von Gendefekten entdeckt, die mit Zuständen einer abnormalen Gehirnentwicklung assoziiert sind, wie mit Autismus oder Lernschwierigkeiten. Viele dieser Gene sind mit der Biologie der Histone assoziiert. “ Diese Beobachtungen werfen einige grundlegende Fragen auf, z.B. was die Erneuerung der Histone während der Entwicklung tatsächlich bedeutet.”
Um zu klären, welche Rolle Histone spielen, beschäftigt sich Kyung-Min seit ihrer Zugehörigkeit zum EMBL im November 2014 mit diesen Fragen und kultiviert Neuronen im Labor, mit denen sie eine Reihe genetischer Experiment durchführt. Das klingt leichter als es ist: eine der schwierigsten Herausforderung in der Neurobiologie ist es, an genügend Zellmaterial des richtigen Zelltyps heranzukommen, um solche Untersuchungen durchführen zu können. Dazu entnimmt Kyung-Min’s Arbeitsgruppe Mäuseembryonen Zellen und behandelt sie so, dass sie in Petrischalen zu adulten Neuronen heranwachsen. Zusätzlich bereiten sich die Forscher/innen auf die Arbeit mit einem Zelltyp, der als iPS-Zellen bekannt ist, vor. Diese Zellen können sich ebenfalls zu Neuronen entwickeln. Sie stammen nicht von embryonalen, sondern von adulten menschlichen Zellen ab, die verjüngt worden sind.
Auswirkungen des Editierens
Zur Veränderung der Eigenschaften der Histone der im Labor gezüchteten Neuronen hat Kyung-Min’s Arbeitsgruppe eine neue Technik in Angriff genommen, die CRISPR w1 genannt wird. Sie erlaubt es den Wissenschaftler/innen durch die Modifikation der von iPS-Zellen gebildeten Histone die Struktur der Gene der Neuronen zu verändern. Diese Veränderungen – Mutationen – werden auf jenen basieren, von denen bekannt ist, dass sie eine Rolle in der Entwicklung des menschlichen Gehirns spielen. Die Untersuchungen der iPS-Zellen erlauben es den Wissenschaftler/innen die Auswirkungen dieser Mutationen auf die Eigenschaften von Neuronen zu untersuchen.
“Obwohl wir mit unseren Arbeiten erst am Anfang stehen, könnten die Arbeiten zu neuronalen Histonen befruchtend auf andere Forschungsgebiete wirken, z.B. auf die Forschung an neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer Erkrankung“, erklärt Kyung-Min.
Breits jetzt werden Stoffe, die die zelluläre Maschinerie, die Histone verändert, beeinflussen, genutzt, um bestimmte Krebsformen zu behandeln, darunter das T-Zell- Lymphom. Untersuchungen zu diesen Medikamenten liefern neue Erkenntnisse, wie sich die von ihnen beeinflussten Histone auf Zellen auswirken können. Eine daraus abgeleitete Idee besagt, dass Erkrankungen entstehen, wenn die DNA nicht dicht genug um die Histone gewickelt ist. “Wenn du versuchst, dieses unorganisierte Knäuel aufzulösen, sucht die Zelle eine Möglichkeit, den DNA-Faden in einer ordentlicheren Art und Weise wieder aufzuwickeln”, erläutert Kyung-Min. “Die Rückkehr einer Zelle in einen geordneten gesunden Zustand wäre ein neuer therapeutischer Ansatz.”
Danksagung
Der Originalversion dieses Artikels erschien in der Frühjahrsausgabe 2015des EMBLetc, dem Magazin des European Moelcular Biology Laboratory.
Web References
- w1 – Weitere Informationen über die CRISPR-Technik zur Veränderung von Genen finden Sie auf der EMBL Webseite.
Institutions
Review
Dieser faszinierende Artikel verbindet historische Ereignisse mit modernen Forschungsergebnissen aus der Zellbiologie, und verfolgt gleichzeitig die Karriere einer jungen Wissenschaftlerin. Die Verwendung von Radioisotopen in der Biophysik und Molekularbiologie eignet sich als Diskussionsgrundlage für den fortgeschrittenen Physik- oder Biologieunterricht, oder für einen Chemieunterricht eines mittleren Schwierigkeitsgrads.
Geeignete Fragen zur Zusammenfassung und Erweiterung wären z.B:
- Was sind Radioisotope und für welche Untersuchungen können sie verwendet werden?
- Beschreibe die Struktur und Funktion von Histonproteinen in Zellen.
- Welche Verbindung gibt es zwischen DNA und Histonproteinen?
Terry Myers, Banbridge Academy, Irland