Von der Natur inspiriert: moderne Medikamente Understand article
Übersetzt von Dorothea Zähner. Viele in der Natur vorkommende Substanzen können in der Medizin verwendet werden – allerdings kann ihre Gewinnung aus ihren natürlichen Produzenten unvorstellbar teuer sein. Neue wissenschaftliche Synthesemethoden und Produktionsverfahren lösen dieses…
Der erste jemals mit Penicillin behandelte Patient starb einen Monat später. Die wenigen Gramm des Anfang 1941 zur Verfügung stehenden Antibiotikums reichten nicht aus, das Leben des englischen Polizisten Albert Alexander zu retten, der sich durch einen unglücklichen Kratzer im Gesicht eine schwere Infektion zugezogen hatte. Auch nachdem sein Urin gesammelt und daraus ein Teil des Penicillins wiedergewonnen wurde, reichte die Menge immer noch nicht aus. Nach ein paar hoffnungsvollen Tagen mussten sich Dr. Howard Florey und sein Team der unwiderlegbaren Tatsache stellen, dass Medikamente nicht wirklich weiterhelfen, solange sie nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen.
Glücklicherweise führten immense Forschungsanstrengungen während des Zweiten Weltkrieges zur schnellen Lösung dieses Problems und im Jahr 1943 stand ein effizientes Verfahren zur Verfügung, um große Mengen des penicillinbildenden Pilzes Penicillium zu züchten und daraus das kostbare Penicillin zu extrahieren.
Allerdings ist dies kein typisches Beispiel für die Entwicklung neuer Wirkstoffe. Es gibt auch heute noch viele vielversprechende Naturstoffe, von denen sich nur sehr geringe Mengen aus ihren natürlichen Produzenten gewinnen lassen. Pflanzen, Pilze und festsitzende Meeresorganismen sind besonders vielversprechende Quellen hierfür, da sich viele von ihnen – weil sie nicht vor ihren Feinden fliehen können – auf eine chemische Abwehr spezialisiert haben. Dies kann für die Wirkstoffentwicklung genutzt werden. Ein Beispiel ist Bryostatin, das von Bugula neritina, einer auch als Moostierchen bezeichneten Spezies kleiner wirbelloser Meeresbewohner, gebildet wird. Bryostatin könnte sich als wirksam in der Behandlung von Speiseröhrenkrebs erweisen – wenn es nicht mehrere Tonnen des Ausgangsmaterials bräuchte, um einige wenige Gramm der reinen Substanz zu erhalten.
Naturstoffe und moderne Medikamente
Naturstoffe werden bereits seit der Antike zu medizinischen Zwecken verwendet und vier Fünftel der Weltbevölkerung tun dies auch heute noch. Traditionell wurden diese Wirkstoffe in Form von Heilpflanzen und Pilzen verabreicht, in jüngerer Zeit hingegen stehen immer häufiger verbesserte Präparationen der isolierten, aktiven Substanzen aus den entsprechenden Pflanzen und Pilzen zur Verfügung. Nachdem 1804 der erste Naturstoff isoliert wurde (Morphin aus dem Schlafmohn Papaver somniferum), verbreitete sich in der westlichen Welt bald der Gebrauch von Reinsubstanzen anstelle von Rohextrakten aus Pflanzen oder Pilzen.
Tatsächlich hat die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und Methoden zu einer drastischen Zunahme in der Zahl der zur Verfügung stehenden Naturstoffe geführt. Um 1990 waren ungefähr 80 % der in den USA zugelassenen Medikamente entweder Naturstoffe oder gingen auf sie zurück (siehe Li & Vederas, 2009). Hierzu gibt es Hunderte von Beispielen: Antibiotika wie Penicillin oder Erythromycin, Anti-Tumor-Medikamente wie Trabectedin und Vinblastin, Immunsuppressiva wie Cyclosporin und Rapamycin, die Organtransplantationen unterstützen, Schmerzmittel wie Morphin und Codein sowie Antimalariamittel wie Chinin und Artemisinin.
Die Entwicklung dieser Medikamente gelang auf zwei Hauptwegen: Klinische Studien, die die Wirksamkeit mehrerer traditioneller Heilmittel belegten (siehe z. B. Watt & Hayes, 2013), und die Entdeckung von zuvor unbekannten medizinisch verwendbaren Naturstoffen. Beide Wege gemeinsam haben zu den Erfolgen der modernen Medizin beigetragen, durch die sich unsere Lebenserwartung von um die 50 Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf heute fast 80 Jahre erhöht hat.
Unter den wissenschaftlichen Disziplinen war es vor allem die Chemie, die den wohl größten Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet hat. Durch chemische Synthese ist es möglich geworden, viele auf Naturstoffe zurückgehende Wirkstoffe, deren natürliches Vorkommen sehr begrenzt ist, in therapeutisch benötigten Mengen herzustellen. Dies war beispielsweise der Fall für Galantamin, einer Substanz, die von einer seltenen Blume in den kaukasischen Bergen produziert wird. Sie gilt als eine der wenigen Substanzen, die in der Lage sind, das Fortschreiten der Symptome der Alzheimer-Krankheit zu verlangsamen. Trotz seiner komplexen Struktur wird dieser Wirkstoff heute kommerziell durch Synthese aus einfachen Chemikalien hergestellt, in einem Verfahren, das weitaus günstiger ist als seine Extraktion aus dem Kaukasischen Schneeglöckchen.
Darüber hinaus werden heute bei der Entwicklung neuer Medikamente sehr häufig semisynthetische Verfahren verwendet, bei denen die Extraktion von Naturstoffen aus ihrer natürlichen Quelle und die chemische Synthese miteinander kombiniert werden. Ein Beispiel hierfür ist Taxol, ein Medikament zur Behandlung von Eierstock-, Brust- und Lungenkrebs sowie fortgeschrittenen Stadien des Kaposi-Sarkoms. Ursprünglich wurde Taxol aus der Rinde der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) gewonnen. Die Deckung des klinischen Bedarfs an Taxol ausschließlich aus dieser Quelle hätte allerdings zur Ausrottungen des Baumes geführt. Im Rahmen der Entwicklung semisynthetischer Medikamente werden Naturstoffe anhand ihrer chemischen Struktur in Familien zusammengefasst, wobei die Mitglieder einer Familie häufig über eine Vielzahl gemeinsamer Eigenschaften verfügen.
Durch diese Vorgehensweise zeigte sich, dass die Verbindung aus der Pazifischen Eibe eine ähnliche Struktur besitzt wie die weitaus besser verfügbare Ausgangssubstanz 10-Deacetyl-Baccatin-III aus den Blättern der Europäischen Eibe (Taxus baccata). Ein Verfahren wurde entwickelt, mit dem sich durch nur drei einfache chemische Reaktionen 10-Deacetyl-Baccatin-III in Taxol umwandeln lässt. Dadurch gelang eine wirtschaftlich vertretbare und umweltverträgliche Gewinnung dieses Medikaments (siehe Kasten unten)w1.
Heute werden Naturstoffe zudem häufig als molekulare Modelle bei der Entwicklung neuer Medikamente verwendet, weit häufiger, als dass sie selbst als Ausgangssubstanz oder als zu synthetisierende Verbindung verwendet würden. Bei dieser Vorgehensweise werden eine Reihe verschiedener synthetischer Verbindungen mit einer ähnlichen chemischen Struktur wie die ursprüngliche Substanz hergestellt, sogenannte Analoga, die aber einfacher zu synthetisieren sind. Anschließend wird die Wirksamkeit jeder einzelnen Verbindung getestet, um diejenigen zu identifizieren, die sich sowohl für eine Herstellung im industriellen Maßstab einfach genug synthetisieren lassen als auch die Wirkstoffeigenschaften des Naturstoffes beibehalten haben (siehe Kasten unten). So wird im Fall von Bryostatin vorgegangen und es ist sehr wahrscheinlich, dass eines dieser Analoga in naher Zukunft die für die biologische Aktivität verantwortliche Komponente eines Medikaments liefern wird.
Semisynthetische Taxolsynthese
Taxol (Paclitaxel, Abbildung 1) lässt sich nur in sehr geringen Mengen aus der Rinde der Pazifischen Eibe extrahieren. Für die Gewinnung von 1 kg Taxol müssten 2.000-2.500 Bäume gefällt werden. Semisynthetisch lässt sich Taxol in drei Schritten aus 10-Deacetyl-Baccatin-III (Abbildung 2), einer chemisch verwandten Verbindung, die in den Blättern der Europäischen Eibe vorkommt, herstellen (Abbildung 3). Obwohl 3.000 kg Blätter der Europäischen Eibe für die Gewinnung von einem 1 kg 10-Deacetyl-Baccatin III benötigt werden, so brauchen dafür die Bäume nicht gefällt zu werdenw1.
Vom Bioreaktor zur Massenproduktion
Obwohl chemische Synthesemethoden häufig wirtschaftlich wettbewerbsfähig sind, gewinnt ein noch neueres Herstellungsverfahren zunehmend an Bedeutung: Die Kultivierung von naturstoffproduzierenden Zellen. Die Anzucht von wirkstoffproduzierenden Zellen in Bioreaktoren ist mittlerweile ein weitverbreitetes Verfahren und die Erzeugung von genetisch veränderten Organismen zu genau diesem Zweck wird immer alltäglicher (siehe Kasten unten).
Die Wissenschaft von den aus der Natur stammenden Medikamenten entwickelt sich immer weiter. Noch gibt es Tausende von Pflanzen, Meerestieren und Mikroorganismen, die es auf der Suche nach potentiellen Medikamenten zu untersuchen gilt. Parallel dazu wird weiter nach neuen Wegen für die großtechnische Herstellung bedeutsamer Substanzen gesucht. Nach zwei Jahrzehnten intensiver wissenschaftlicher Forschung stellen die natürlichen Ressourcen nicht mehr den begrenzenden Faktor dar, aber die Natur bleibt auch weiterhin unsere Hauptinspirationsquelle.
Bioreaktorsynthese zur Malariabekämpfung
Malaria ist nach wie vor ein weltweites Gesundheitsproblem, das jedes Jahr mehr als einer halben Million Menschen das Leben kostet. Die effektivste Behandlung besteht derzeit in einer Kombinationstherapie mit dem Naturstoff Artemisinin in Kombination mit einem weiteren Medikament (Artemisinin Combination Therapy, ACT). Artemisinin wird vom einjährigen Beifuß (Artemisia annua) produziert. Die Pflanze produziert aber nur sehr geringe Mengen Artemisinin (0,001 % bis 0,8 %). Die Anbauflächen für Beifuß können nur einen begrenzten Nachschub von Artemisinin liefern, wodurch eine Behandlung mit ACT 1-2 US-Dollar (ca. 0,75-1,50 €) kostet und von daher für die meisten Patienten in von Malaria betroffenen Ländern unerschwinglich ist.
Im Jahr 2008 lizenzierte der Pharmakonzern Sanofi einen gentechnisch veränderten Hefestamm (Saccharomyces cerevisiae) für die Produktion von Artemisininsäure in Bioreaktoren im industriellen Maßstabw3,w4. Mit dieser Methode (Abbildung 4) wurden bis zum Jahr 2012 bereits fast 39 Tonnen Artemisininsäure hergestellt, eine Menge, die für mindestens 40 Millionen Behandlungen ausreicht. Dies war zugleich das erste Mal, dass die Synthetische Biologie zur Medikamentenherstellung im industriellen Maßstab eingesetzt wurde. Die Behandlung mit diesem Material ist noch nicht billiger als die ACT-Standardbehandlung, die Forscher hoffen jedoch, den Fermentationsprozess in naher Zukunft effizienter und damit kostengünstiger machen zu können.
Allerdings wurden in Südostasien bereits die ersten Fälle von ACT-Resistenz beobachtetw5. Da die Antimalariaaktivität von Artemisinin auf der Endoperoxidbrücke (Abbildung 5) beruht, werden mehrere synthetische Artemisininanaloge wie OY439, die auf dem 1,2,4‑Trioxolan-Pharmacophore basieren, als Kandidaten für die weitere klinische Entwicklung untersucht.
References
- Li JWH, Vederas JC (2009) Drug discovery and natural products: end of an era or an endless frontier? Science 325(5937): 161-165. doi: 10.1126/science.1168243
- Watt S, Hayes E (2013) Klostermedizin: Mittelalterliche Pflanzenheilkunde trifft auf moderne Wissenschaft. Science in School 27.
Web References
- w1 – In der von der Florida State University veröffentlichten Zeitschrift Research in Review, wird die Geschichte von Taxol beschrieben.
- w2 – Das Drug Information Portal der United States National Library of Medicine (NLM; deutsch: Nationalbibliothek für Medizin) bietet umfassende Informationen zu Taxol (Suche nach „Paclitaxel“).
- w3 – Science Now beschreibt die Synthese von Artemisinin (Malaria drugmakers see the light).
- w4 – Die Webseite von Path, einer internationalen Non-Profit Organisation, die im Bereich globaler Gesundheitsthemen tätig ist, beschreibt die Rolle dieser Organisation bei der Entwicklung semisynthetischen Artemisinins.
- w5 – Auf der Webseite Nature Education’s Scitable finden sich in englischer Sprache Erläuterungen zur ACT- Resistenzproblematik (Artemisia annua: a vital partner in the global fight against malaria).
Resources
- Die Webseite Plant Cultures bietet leicht verständliche englischsprachige Informationen über die weltweite Rolle von Pflanzen im Leben der Menschen.
- Die Webseite Xplore Health bietet englischsprachige Unterrichtsmaterialien zum Thema Medikamentenentwicklung.
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Anhand eines der bei Xplore Health beschriebenen Experimente beleuchtet ein Science in School Artikel die genetischen Grundlagen von Adipositas: McLusky S, Malagrida R, Valverde L (2013). Die genetische Grundlagen von Adipositas: ein Experiment im Klassenzimmer. Science in School 26.
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- Nicolaou KC, Montagnon T (2008) Molecules that Changed the World. Wiley-VCH: Weinheim, Germany
- Raviña Rubira E (2011) The Evolution of Drug Discovery: From Traditional Medicines to Modern Drugs. Wiley-VCH: Weinheim, Germany
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Das Buch ist frei zugänglich unter Google Books.
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- Le Couteur P, Burreson J (2003) Napoleon’s Buttons: How 17 Molecules Changed History. Jeremy P. Tarcher/ Putnam: New York, NY, USA
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Das Buch kann kostenlos bei Scribd.
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Eine Zusammenfassung des Buches befindet sich auf der Webseite Napoleon’s Buttons.
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- Stuart DC (2004) Dangerous Garden: The Quest for Plants to Change Our Lives. Harvard University Press:Cambridge, MA, USA
Review
Dieser Aufsatz eignet sich für den Biologie- und Chemieunterricht, insbesondere zu den Themenbereichen Organische Chemie, Ökologie und Naturschutz. Er kann beispielsweise als Grundlage für ein Gespräch über die herausragende historische und die aktuelle Bedeutung von Naturstoffen für die menschliche Gesundheit dienen oder zu einer Diskussion darüber anregen, ob die in Laboren entwickelten Medikamente stets denjenigen, die von unseren Vorfahren angewendet wurden, überlegen sind. Zudem kann er als Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung darüber verwendet werden, wie Chemie, die ja häufig als Umweltbedrohung gesehen wird, einen Beitrag zum Umweltschutz leisten kann.
Fragen zum Textverständnis:
– Wie haben Naturstoffe in der Vergangenheit dazu beigetragen menschliche Gesundheit zu erhalten?
– Wie tragen Naturstoffe heute zur Erhaltung menschlicher Gesundheit bei?
– Wie kann Chemie zum Artenschutz beitragen?
– Warum ist es nicht möglich, alle Naturstoffe, die wir benötigen, von ihrer natürlichen Quelle zu gewinnen?
Mireia Güell Serra, Spanien