Das sich wandelnde Gesicht der Kieferorthopädie Understand article

Übersetzt von Tina Martin. Viele von uns haben ihre Zähne mit Spangen begradigt bekommen. Wenige Leute wissen jedoch, dass Kieferorthopädie jede Menge Grundlagenforschung und schnelllebige Technologien umfasst.

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von Jenn und Tony Bot;
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Die meisten von uns sind mit Kieferorthopädie als eine Art Maschinenbau im Mund vertraut – all diese Metallspangen, Prothesen und Drähte. Aber wie viele von uns sind mit den zahlreichen Wissenschaften vertraut, die in diesen Bereich der Zahnheilkunde involviert sind? Heutige Kieferorthopäden müssen viel von spezieller Wissenschaft verstehen und sie anwenden – alles von Genetik bis zur Metallkunde.

Was ist Kieferorthopädie?

Mit freundlicher Genehmigung
von US National Archives und
Records Administration;
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Commons

Kieferorthopädie ist das Teilgebiet der Zahnheilkunde, das sich mit der Diagnose und Korrektur von Unregelmäßigkeiten der Zähne und des Kiefers befasst. Sie wird für weitaus mehr als bloß zum Erlangen eines Hollywood Lächelns eingesetzt: unser Kiefer und unsere Zähne werden sowohl zum Sprechen als auch zum Kauen verwendet, daher befasst sich Kieferorthopädie damit, wie die Gesichtsanatomie diese Funktionen beeinflusst sowie mit kosmetischen Verbesserungen.

Als Kieferorthopäde sind wir immer auf der Suche nach den neuesten Erkenntnissen und Techniken von relevanten Wissenschaftsgebieten und wenden diese für unsere Arbeit an. Einige Beispiele sind in Tabelle 1 aufgeführt. In diesem Artikel betrachten wir mehrere dieser Bereiche detaillierter.

 
Tabelle 1: Beispiele dafür, wie die neusten Erkenntnisse und Techniken aus wichtigen Wissenschaftsgebieten für die Kieferorthopädie angewendet werden können
Genetik Wir müssen in der Lage sein zu diagnostizieren, ob ein Problem eine genetische Ursache hat, so dass wir es wirksam behandeln können.
Wachstum und Entwicklung Gesichter verändern sich, sie reifen und altern durch Veränderungen des Körpergewebes. Diese Prozesse zu verstehen, erlaubt uns sie positiv zu beeinflussen.
Physiologie Jeder ist anders in dem, wie er atmet, kaut, schluckt oder spricht. Funktion und Form sind eng miteinander verbunden, so dass diese Prozesse Bestandteil jeder Patientendiagnose und des Behandlungsplans sind (Abblidung 1).
Mikrobiologie Durch Unterrichten unserer Patienten über Mundpflege und Zahnbelag-Entfernung helfen wir Karies und Zahnfleischerkrankungen zu verhindern.
Biomechanik Wir wenden Gesetze der Mechanik dazu an, um die Zahnposition einzustellen. Wir müssen sicherstellen, dass die Kräfte, die von unserer Arbeit ausgehen, nur die Bewegungen auslösen, die benötigt werden.
Metallkunde und Materialwissenschaft Neben Metallen verwenden wir Alginate und Silikone zur Formung, Verbundwerkstoffe und Glasionomerzemente zum Abdichten und Kleben, Gips zur Herstellung von Abgüssen und Harze für die Erstellung von herausnehmbaren Apparaturen. Wir müssen die physikalischen und chemischen Eigenschaften jeden Materials verstehen, um es für jeden Patienten optimal zu nutzen.
Physik Viele kieferorthopädische Harze können mit Hilfe von Licht gehärtet (polymerisiert) werden. Vier Haupttypen von polymerisierenden Lichtquellen stehen zur Verfügung: Halogenlampen, Plasma-Bogenlampen, Argon-Ionen-Laser und Leuchtdioden
Radiologie Röntgenbilder helfen uns komplexe Probleme zu lösen. Wir verwenden viele verschiedene Arten von Röntgenbildern, um Ansichten aus verschiedenen Winkeln zu erhalten (frontal, im Profil oder Panorama) oder nutzen unterschiedliche bildgebende Verfahren (Scanner, Magnetresonanztomographie und Kegelstrahlcomputertomographie).

Genetik und Molekularbiologie in der Kieferorthopädie

Einige Probleme, derer Kieferorthopäden ausgesetzt sind, haben genetischen Ursprung (Abbildung 2). Obwohl fast alle dieser geringfügig sind, resultieren manche aus genetischen Anomalien, da sich der Kopf und das Gesicht vor der Geburt entwickelnw1. Im Embryo beginnt die Entwicklung der Gesichtsstrukturen mit der Bildung von Neuralleistenzellen an der Stelle des Gehirns. Diese Zellen wandern, um ein Gewebe zu bilden, welches sich zu Zellen differenziert, die man Osteoblasten, Chondroblasten sowie odontogene Zellen nennt. Diese entwickeln sich weiter zu dem harten Gewebe des Kopfes und Nackens – den Knochen, Knorpel und Zähnen.

Abbildung 1: Diese hochmodernen Spangen sind fast unsichtbar, selbst wenn der Träger lächelt, da sie auf der Innenseite der Zähne versteckt sind. Bei dieser Technik, der sogenannten Lingualtechnik, ist jede Strebe mit Hilfe der Computer- und Roboter-Technologie maßgeschneidert, um die Zähne anzupassen.
Mit freundlicher Genehmigung von Sophie und Georges Rozencweig

Während dieses Prozesses spielen Moleküle, sogenannte Signalfaktoren und Transkriptionsfaktoren eine wichtige Rolle. Durch Signalfaktoren löst eine Zelle eine Antwort in einer anderen Zelle aus, wohingegen Transkriptionsfaktoren kontrollieren, welche spezifische DNA Sequenz benutzt wird, um mRNA und daraus Proteine herzustellen. Beispielsweise wissen wir mittlerweile, dass wenn der Signalfaktor TGF-β inaktiv ist, die Gaumenspaltew2 sowie Missbildungen des oberen Kiefers ausgelöst werden. Mutationen im Rezeptor des Signalfaktors FGF (wo die Reaktion ausgelöst wird) verursachen ebenso eine Vielzahl an kraniofaszialen Anomalien.

Abbildung 2: Dieser Patient hat Progenie (einen vorstehenden Unterkiefer) mit genetischer Ursache.
Mit freundlicher Genehmigung von Sophie und Georges Rozencweig
Humane, embryonale
Stammzellen. Forscher
untersuchen, ob sich
Stammzellen zur Züchtung
von Zähnen anregen lassen.

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von Nissim Benvenisty;
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Ein weiteres Beispiel sind die den Homeobox Genen assoziierten Transkriptionsfaktoren. Diese Transkriptionsfaktoren sind besonders wichtig, damit sich die Neuralleistenzellen zu skelettartigen Strukturen des Kopfes und Gesichts entwickeln, so dass ein Fehler in der Transkription dieser Gene zu Störungen der Gesichtsentwicklung führen kann.

Ein weiteres Beispiel zur Bedeutung der Molekularbiologie für die Kieferorthopädie ist die jüngste Entdeckung, dass die Zahnpulpa (der Bereich des Bindegewebes in der Mitte eines Zahns) wertvolle adulte Stammzellen enthält, die zur Bildung anderer Zelltypen angeregt werden können. Somit können Stammzellen, wenn ein Zahn gezogen wird oder herausfällt, gewonnen und für die künftige Behandlung gespeichert werden. Stammzellen werden bereits für die Behandlung mancher Krebsarten benutzt und weitere Anwendungen schweben in der Luft. Zum Beispiel untersuchen Forscher, ob Stammzellen genutzt werden können, um einen natürlichen Ersatz für einen fehlenden Zahn wachsen zu lassen.

Biomechanik und Kieferorthopädie

Die benötigte Kraft, um einen Zahn zu bewegen, hängt von seiner Größe und der Art der Bewegung ab (Drehen oder Schieben). Die Bewegkraft benötigt zudem einen Anker, so dass eine Gruppe von Zähnen und Hilfsmittel ausgewählt werden und zur Verankerung dienen (Abbildung 3 und 4).

Abbildung 3: Wir entfernten den ankylosierten (ungewöhnlich starren) linken oberen Eckzahn des Patienten und schlossen die entstandene Lücke mit einer Mini-Prothese. Dieses System ermöglichte es uns die Lücke ohne Verschieben der Mittellinie des Lächelns zu schließen.
Links: Eine Röntgenaufnahme, die nach dem Zahnziehen gemacht wurde, zeigt das Loch, wo der obere linke Eckzahn entfernt wurde sowie die Mini-Prothese, die verwendet wurde, um die Lücke zu schließen.
Rechts: Das Ergebnis: der erste obere linke Backenzahn wurde verschoben, um den fehlenden Eckzahn zu ersetzen.

Mit freundlicher Genehmigung von Sophie und Georges Rozencweig
Abbildung 4: Wir entfernten den ersten unteren linken Backenzahn des Patienten, dann schlossen wir die Lücke mit einer Mini-Schraube als feste, temporäre Verankerung. Die Feder-Befestigung der Mini-Schraube an dem zweiten linken Backenzahn ist der aktive Mechanismus, der den Zahn nach vorne zieht.
Mitte: Zu Beginn der Behandlung sah man die Lücke, die nach der Entfernung des Zahnes verblieb.
Rechts: Die Lücke wurde erfolgreich geschlossen.

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Mit freundlicher Genehmigung von Sophie und Georges Rozencweig

Als Kieferorthopäde ist es unsere Aufgabe über die beste Kombination aus Kraft und Verankerung zu entscheiden, um die korrekte Bewegung ohne Nebenwirkungen zu erzielen. Wir begutachten jedes Stadium der Behandlung, um sicherzustellen, was passiert; falls nichts geschieht, müssen wir den Behandlungsplan ändern.

In der traditionellen Kieferorthopädie wurden Hilfsmittel wie Kopfbedeckungen und intra-orale Gummibänder verwendet, um die Verankerung zu verstärken, die eine Vielzahl von Patienten benötigt. Heutzutage können stattdessen in einigen Fällen Mini-Schrauben aus Titan verwendet werden (Abbildung 4).

Abbildung 5: Die Bogendrähte
sind das, mit dem die Spangen
in Verbindung stehen, so dass
sie wie eine Maschine
funktionieren, um Zähne zu
führen und zu bewegen. Ohne
den Draht würden sich die
Zähne niemals bewegen.

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von bluebike; Bildquelle: Flickr

Metallurgie und Kieferorthopädie

Die Kräfte, die in der Kieferorthopädie genutzt werden, gehen von den Bogendrähten aus (Abbildung 5). Zu Beginn der Behandlung müssen die Drähte ziemlich elastisch sein, um individuelle Zahnbewegungen auszulösen. Später müssen die Drähte starrer sein, um die Stabilität zu gewährleisten, während ein ganzer Zahnblock verschoben wird.

Kieferorthopäden können Drähte aus einer Vielzahl an metallischen Materialien auswählen:

  • Nicht rostender Stahl: er ist leicht zu formen und hat eine hohe Festigkeit, so dass er Stabilität gibt.
  • Nitinol-Legierungen: diese Nickel-Titan Gemische habe eine sehr hohe Elastizität. Sie erzeugen eine schwache, aber konstante Kraft, die sich für die initiale Anordnungsphase eignet. Jedoch können sie nicht verlötet werden.
  • Formgedächtnislegierungenw3: Diese Metalle haben eine unterschiedliche, von der Temperatur abhängende Elastizität. Sie können für die Einbringung in der Mund gebogen werden; einmal dort, „versuchen“ sie in ihre Ursprungsform zurückzukehren und üben dabei eine Kraft auf die Zähne aus.

Eine dynamische Disziplin

Ein Besuch beim Zahnarzt
wäre nicht abgeschlossen
ohne jede Ritze des Mundes
mit einem kleinen runden
Spiegel erforscht zu haben.

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von ben matthews; Bildquelle:
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Wie Sie sehen können, müssen Kieferorthopäden Allround-Wissenschaftler sein, um mit den sich ändernden Erkenntnissen und technologischen Innovationen in ihrer Disziplin mitzuhalten. Falls ein Schüler in Ihrer Klasse wegen eines Termins beim Kieferorthopäden eine Naturwissenschaft-Stunde verpasst, machen Sie sich keine Sorgen – es könnte die perfekte Gelegenheit sein, um die neuesten Ergebnisse in der Molekularbiologie zu erlernen oder um Inspiration für einen angehenden Materialwissenschaftler zu bekommen.


Web References

Resources

Author(s)

Sophie und Georges Rozencweig haben beide Kieferorthopädie in Paris, Frankreich, gelehrt, nachdem sie ihren Masterabschluss in Kieferorthopädie an der Case Universität in Cleveland, Ohio, USA, erhielten. Seit 1991 teilen sie sich eine Praxis für Kieferorthopädie in Grenoble, Frankreich.

Georges und Sophie sind beide in Fortbildungen involviert: sie halten Vorlesungen, schreiben Artikel für Veröffentlichungen und sind in der Redaktionsleitung von mehreren französischen Kieferorthopäden Zeitschriften. Georges ist der Herausgeber der Zeitschrift l’Orthodontie Française.

Review

Jeder hat Erfahrung mit dem Besuch beim Zahnarzt: für manche beinhalten diese Besuche nicht mehr als ein kurzes Nachschauen und eine Politur; für andere kann es eine sehr traumatische Erfahrung sein.

Aber in welchem Umfang verstehen wir die Rolle eines Zahnarztes? In Großbritannien müssen sich alle Zahnärzte einem 5-Jahres- Studium unterziehen, um eine primäre zahnärztliche Qualifikation zu erwerben. Diejenigen, die sich auf Kieferorthopädie spezialisieren möchten, brauchen sowohl zahnärztliche Erfahrung als auch eine weitere, 3-jährige Spezialisten-Qualifikation. Neben der klinischen Ausbildung und Praxis wird ein Student der Zahnmedizin Molekularbiologie, Anatomie und Physiologie, Materialkunde und humane Krankheiten lernen. Wie ein Student der Zahnmedizin, mit dem ich an der Universität war, es formulierte: „Es ist alles verbunden, wissen Sie!“

Zahnmedizin ist eine Karriere, die viele junge Menschen wählen, um an der Universität zu studieren. Jedoch wird sicherlich in britischen Schulen sehr wenig (wenn überhaupt) Zeit für das Erlernen von Mund, Zähnen oder zahnärztlicher Wissenschaft aufgebracht. Dieser Artikel bietet exzellentes Lesematerial für solche Schüler an, die über eine Karriere in der Zahnmedizin nachdenken. Er kann von Lehrern genutzt werden, um eine Einführung in die Zahnheilkunde und ihrer Subspezialisierungen zu geben, und um Schülern zu helfen, eine informierte Entscheidung über ihre zukünftige Karriere zu treffen.

Zusätzlich liefert der Artikel einen alternativen Kontext für Biologie Unterrichtsstunden über Transkription und Translation von DNA, Zell-Signalwegen und Zelldifferenzierung sowie totipotente Stammzellen. Lehrer könnten den Artikel als Basis für eine Gruppendiskussion oder als Forschungsprojekt nutzen; alternativ könnten sie es als Vorbereitungsmaterial für den Unterricht empfehlen. Für Physik und Materialwissenschaft Unterricht bietet der Artikel zudem einen Einblick in reale Anwendungen von Legierungen, Verbundwerkstoffen und intelligenten Materialien. Im sozialen Kontext kann der Artikel als Basis für eine Diskussion über das Gesundheitswesen in Entwicklungsländern dienen, bei der die Behandlung der Gaumenspalte als Beispiel herangezogen wird.

Jonathan Schofield, McAuley Roman Catholic High School, Doncaster, Großbritannien

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