Explodierende Chromosomen: wie Krebs entsteht Understand article
Übersetzt von Veronika Ebert, Höhere Bundeslehr- und versuchsanstalt für chemische Industrie, Wien. Gehirntumoren gehören zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern -möglicherweise entstehen sie bei der Zellteilung, wenn die Chromosomen in auseinander gezogen werden.
Eine bekannte Szene, wie sie sich in vielen Familien bereits ereignet hat: ein verstörtes Kind schaut mit weit geöffneten Augen, Reste seiner Lieblingskette in der Hand, während die ganze Familie auf Knien rutschend gefärbten Perlen hinterher kriecht.
Sobald die Perlen wieder eingesammelt sind, werden sie von einem hilfsbereiten Erwachsenen auf eine neue Schnur gefädelt, und die Krise ist vorbei. Und klarerweise wäre das Kind mit nichts anderem zufrieden zu stellen als mit der genauen Kopie der Originalkette: alle Perlen zu finden, auch jene die unter das Sofa oder hinter den Schrank gerollt sind, und sie dann in der richtigen Reihenfolge erneut aufzufädeln, kann ganz schön kniffelig sein.
Andreas Kulozik von der Heidelberger Universitätsklinik kennt eine Familie mit einem weitaus ernsteren Problem: in einem kleinen Mädchen und ihrem Bruder hatten sich hoch aggressive Tumore gebildet. Andreas fand durch den anfänglich durchgeführten genetischen Test heraus, dass beide Geschwister die gleiche Mutation im TP53-Gen aufwiesen. Da diese Mutation in allen Zellen, nicht nur in den krebsartig veränderten, vorhanden war, war klar, dass sie von den Eltern vererbt worden ist, und nicht erst später in den tumorbildenden Zellen entstanden war.
Diese familiäre Häufung war für Jan Korbel vom European Molecular Biology Laboratoryw1 der eine Forschungskooperation mit Stefan Pfister und Peter Lichter vom Deutschen Krebsforschungszentrumw2 zur Aufklärung der genetischen Ursachen von Gehirntumoren bei Kindern eingegangen war, ein guter Ausgangspunkt . Als Teil des internationalen Krebsgen-Konsortiums sequenzierten Jan, Stefan und Peter das erste komplette Genom von Zellen eines juvenilen Tumors. Das sogenannte Medulloblastom, die häufigste aller bösartigen kindlichen Krebsformen, verursacht die gefährlichste Krebsform bei Kindern und rangiert in der Todesstatistik in entwickelten Ländern nach Autounfällen auf Rang zwei.
“Als wir die Sequenzdaten bekamen, bemerkten wir ein wahres Chaos im Genom des Mädchens, das wir uns zuerst überhaupt nicht erklären konnten“, sagt der Leiter der Datenanalyse, Tobias Rausch aus Jans Forschungsgruppe. „Dann fiel uns die Publikation einer anderen Forschungsgruppe auf, in der ein neu entdeckte Phänomen, die Chromothripsis, beschrieben wurde, und es hat geklingelt“, ergänzt Adrian Stütz.
Die Wissenschaftler erkannten, dass auch in ihrem Falle eine Chromothripsis vorlag, das zelluläre Pendant zur zerrissenen Perlenkette: ein, manchmal auch zwei Chromosomen sind irgendwie in unzählbare kleine Stücke zerfallen, die dann wieder zusammengebastelt worden sind, wobei ein paar Teile fehlen und andere falsch angeordnet sind. Die Analyse weiterer Proben zeigte, dass diese chromosomalen Veränderungen im Tumorgewebe aller Medulloblastome vorhanden ist, das von PatientenInnen stammte, die irgendeine angeborene TP53 Mutation besitzen. Im Gegensatz dazu fand sich bei Medulloblastom-PatientenInnen mit normalem TP53 keine chromosomale Veränderung, weder in den Krebszellen, noch im gesunden Gewebe.
„Das führt zur Vermutung, dass diese drei Sachverhalte zusammen hängen“, so Jan. „Wir gehen davon aus, dass die TP53-Mutation für den Zerfall der Chromosomen verantwortlich ist. Eine alternative Erklärung wäre, dass die Mutation die Zelle daran hindert, auf den Zerfall adäquat zu reagieren. Daraus resultieren dann in irgendeiner Art und Weise sehr aggressive Krebsformen.“
Wie ist es nun möglich, dass eine Mutation in TP53 zum Zerfallen von Chromosomen führt, und wie kann das zu Krebs führen? Es ist bekannt, dass TP53 die Verkürzung der Chromosomen von ihren Enden her verhindert, indem es die Telomere schützt. Telomere sind jene Kappen, die die Enden von Chromosomen zusammenhalten. Jan und seine Kollegen nehmen an, dass die Telomere beeinträchtigt werden, wenn TP53 nicht richtig funktioniert, und die Chromosomen dadurch aneinander haften.
In einem derartigen Szenario könnten miteinander verbundene Chromosomen bei der Zellteilung Probleme verursachen. Sie könnten in entgegengesetzte Richtungen gezogen werden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt könnte die mechanische Beanspruchung zu groß werden, und wie bei einer Perlenkette, an der zu fest gezogen wird, könnten eines, oder beide Chromosomen auseinander brechen, und DNA-Fragmente frei setzen. Wenn die Zellmaschinerie versucht, das bzw. die Chromosom(en) wieder zusammen zu setzen, könnten Teile des genetischen Materials verloren gehen, und andere Abschnitte in der falschen Reihenfolge zusammengebaut werden. Unter Umständen könnten sogar Teile von falschen Chromosomen eingebaut werden.
Andererseits ist TP53 auch bei der Kontrolle der DNA auf vorhandene Schäden involviert. Wenn dieser Beschützer des Genoms zu viele Fehler findet, kann es die betroffene Zelle in den programmierten Zelltod (Apoptose), oder in das zelluläre Äquivalent der Alterung (Seneszenz) schicken. Dadurch würde die Teilung der Zelle verhindert, und die genetischen Defekte könnten nicht vererbt werden.
Wenn jedoch TP53 mutiert ist, könnten umfassende DNA-Schäden wie z.B. jene durch falsch zusammengesetzte Chromosomen nach Chromothripsis, unbemerkt bleiben, unabhängig davon, ob TP53 am Zerfall der Chromosomen beteiligt war, oder nicht. In Folge könnten Onkogene (Gene, die zu Krebs führen) aktiviert werden, und die Zelle könnte beginnen, sich unkontrolliert zu teilen, und weiter zu teilen, bis ein Tumor entstanden ist. Jan, Stefan und Peter vermuten, dass alles diese Auswirkungen eines fehlerhaften TP53 zur Krebsentstehung bei den betroffenen PatientenInnen beitragen. Sie würden nun gerne genauer untersuchen, wie diese Schritte im Einzelnen verlaufen.
Inzwischen haben diese Erkenntnisse unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit von ÄrztenInnen wie Andreas und Stefan, und ihre PatientenInnen. „Wenn die Tumorzellen Anzeichen von Chromothripsis zeigen, wissen wir, dass wir nach einer vererbten TP53-Mutation suchen sollten“, meint Stefan. Das ist wichtig, weil eine vererbte TP53- Mutation die am häufigsten eingesetzten Tumorbehandlungen konterkariert. Viele Chemo- und Strahlentherapien töten nicht nur die Krebszellen durch Schädigung der DNA ab, sondern beeinträchtigen auch die anderen Zellen des Körpers. Das verursacht bei den meisten PatientenInnen – trotz schmerzhafter Nebenwirkungen – kaum langfristige Schädigungen. Anders bei Personen mit vererbter TP53-Mutation: Durch die Mutation haben alle, und nicht nur die Krebszellen, Probleme auf DNA-Schäden adäquat zu reagieren.
Dadurch können Therapieformen, die die DNA schädigen, sogar gesunde Zellen in Tumorzellen umwandeln, wodurch sogenannte sekundäre und tertiäre Tumoren entstehen, „etwas, das wir bei PatientenInnen mit vererbten TP53-Mutationen häufig beobachten“, meint Stefan. Bei solchen PatientenInnen wäre es ratsam, weniger intensive Behandlungsformen zu wählen, die die DNA weniger stark schädigen. Außerdem wissen die ÄrzteInnen dass, wenn ein Patienten/eine Patientin mit einer vererbten TP53-Mutation vorliegt, auch die zugehörige Familie unverzüglich untersucht werden sollte. Besitzt ein gesundes Familienmitglied ebenfalls die Mutation, sollte es sich regelmäßigen Kontrolluntersuchungen unterziehen, da die Wahrscheinlichkeit, ebenfalls irgendwann einen Tumor zu entwickeln, sehr groß ist. Jan betont, dass die frühzeitige Diagnose die beste Methode ist, vor allem aggressive, früh auftretende Krebsformen, die mit Chromothripsis assoziiert ist, zu bekämpfen.
Da die Wissenschaft davon ausgeht, dass 2-3% aller Krebserkrankungen durch Chromothripsis verursacht sein könnten, untersucht Jans Gruppe derzeit, ob TP53-Mutationen auch in vergleichbare Chromosomenzerstörungen bei anderen Tumorerkrankungen abseits der Medulloblastome involviert sind. So konnten sie bei der myeloiden Leukämie ebenfalls Hinweise auf den gleichen Zusammenhang zwischen vererbten TP53-Mutationen und Chromothripsis finden. Jan und seine Kollegen fanden heraus, dass eher ältere PatientenInnen eine neu erworbenen TP53-Mutation (einer Mutation, die nur in den Tumorzellen auftritt) und eine nachgewiesene Chromothripsis besitzen. Das erscheint den Wissenschaftlern – in Hinblick auf die Rolle von TP53 für die Telomerintegrität – durchaus plausibel. Die Gefahr, dass die Chromosomenenden bei beschädigtem TP53 aneinander haften steigt mit dem Alter, weil die Telomere normalerweise im Alter kürzer werden. Dadurch wird das Auftreten einer Chromothripsis, und die nachfolgende Krebserkrankung wahrscheinlicher, vermuten die Wissenschaftler.
Um heraus zu finden, wie fehlerhafte Versionen von TP53 mit dem Zerfall von Chromosomen, die wie Perlenketten zerreißen, zusammenhängen, wird Jans Gruppe diese Fragestellungen auch bei Gehirn-, Blut- und anderen Tumorformen untersuchen. Geplant ist auch, andere Aspekte der Beteiligung des zellulären Stoffwechsels an der Tumorentstehung zu erforschen.
Mehr über das EMBL
Das European Molecular Biology Laboratory (EMBL)w1 gehört zu den weltweit führenden Forschungsstätten, die sich auf die Grundlagen der Lebenswissenschaften konzentrieren. Das EMBL ist international, innovative und arbeitet interdisziplinär. Seine MitarbeiterInnen aus 60 Nationen mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen, darunter Biologie, Physik, Chemie und Computerwissenschaften kooperieren bei Forschungsfragen, die das volle Spektrum der Molekularbiologie abdecken.
EMBL ist Mitglied beim EIROforumw3, dem Herausgeber von Science in School.
References
- Diese Arbeiten wurden in
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Rausch T et al. (2012) Genome sequencing of pediatric medulloblastoma links catastrophic DNA rearrangements with TP53 mutations in cancer. Cell 148(1-2): 59-71.
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Web References
- w1 – Nähere Informationen zum European Molecular Biology Laboratory.
- w2 – Das Deutsche Krebsforschungszentrum ist das größte biomedizinische Forschungsinstitut in Deutschland, über 100 WissenschafterInnen untersuchen die Mechanismen der Krebsentstehung, identifizieren Risikofaktoren für Krebs und versuchen Strategien zu finden, wie Menschen vor Krebs bewahrt werden können.
- w3 – EIROforum ist eine Zusammenarbeit zwischen acht der größten europäischen internationalen wissenschaftlichen Forschungsorganisationen, die ihre Ressourcen und Expertise einbringen, um mitzuhelfen, das volle Potential der europäischen Forschung auszureizen. EIROforum publiziert Science in School als Teil seiner Bildungs- und Informationsaktivitäten.
Resources
- Ein Unterrichtsmodul zur Frage, wie GenetikerInnen Krebszellen identifizieren können, findet sich in:
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Communication and Public Engagement Team (2010) Können Sie eine Krebsmutation ausfindig machen? Science in School 16: 39-44.
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- Um zu erfahren, wie Krebsstammzellen die Behandlung von Krebs revolutionieren könnte, siehe:
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Mazza M (2011) Krebs-Stammzellen – eine Hoffnung für die Zukunft? Science in School 21: 18-22.
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- Weitere Informationen zur Frage, wie genetische Mutationen Erkrankungen hervorrufen können, findet man unter:
-
Patterson L (2009) Wie man Genkrankheiten in den Griff bekommt. Science in School 13: 53-58.
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- Ein Unterrichtsmodul über die Frage, was Gene für uns bereit halten, darunter auch die Möglichkeit der Krebsentstehung, findet sich in:
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Strieth L et al. (2008) “Rendezvous mit der Genmaschine”: Wie Schüler/innen zu Diskussionen über Bioethik angeregt werden können. Science in School 9: 34-38.
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Institutions
Review
Der Artikel hat einen interessanten Aufhänger und beschreibt klar und präzise das Szenario. Die Analogie der zerfallenden Chromosomen und der zerrissenen Perlenkette ist sehr passend; Sie kann SchülerInnen helfen zu verstehen, wie schwierig es ist, zerfallene Chromosomen wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen. Da Perlen in jedem Schullabor vorhanden sein sollten, kann dieses Zerreißen auch in der Schule vorgezeigt werden.
Der Artikel eignet sich als Ergänzung zum Unterricht über Mutationen, oder um eine erweiterte Diskussion über die Rolle von Genen bei Krebs zu führen. Er eignet sich auch als Grundlage für weitere Nachforschungen über TP53-Mutationen, oder zum Studium der Rolle von Genen für Krebs und Medullablastome, wenn z.B. SchülerInnen beabsichtigen, Medizin zu studieren. Zusammen mit geeigneten Fragestellungen kann der Artikel als Zusammenfassung verwendet werden, und eine Vielzahl von Anregungen für weitere Webrecherchen über Mutationen, Onkogene, Krebsformen, Krebstherapien und Telomere bieten.
Passende Fragestellungen wären z.B.:
- Wenn man eine Mutation in einer Zelle findet, ist es wahrscheinlicher, dass sie zufällig aufgetreten, oder von den Eltern vererbt worden ist? Erkläre deine Antwort.
- Was ist ein Medulloblastom? Erkläre, warum es so heimtückisch ist.
- Zeichne mehrere Abbildungen, die die Chromothripsis veranschaulichen.
- Welche Rolle hat das TP53-Gen?
- Erkläre mögliche Mechanismen, wie TP53-Mutationen Krebs verursachen können.
- Was sind Onkogene?
- Wie beeinflussen TP53-Mutationen die Behandlung von Krebs?
- Welche Bedeutung haben die Telomere von Chromosomen?
SchülerInnen können den Artikel auch zur Erstellung eines Glossars mit unüblichen Begriffen und Konzepten verwenden.
Shaista Shirazi, Vereinigtes Königreich