Interview mit Alec Jeffreys: ein Pionier an der Front menschlicher Diversität Understand article
Übersetzt von Marlene Rau. Professor Sir Alec Jeffreys, der Erfinder des genetischen Fingerabdrucks, erinnert sich an seine Leidenschaft für die Wissenschaft als Kind, erläutert, was wir durch direkte DNA-Analyse gelernt haben, und beschreibt seine Arbeit mit Überlebenden von Tschernobyl.…
Was hat Sie ursprünglich für Wissenschaft begeistert?
Ich kam schon als neugieriges Kind auf die Welt; ich war die Art Kind, die herumläuft und Regenwürmer zerschneidet, um herauszufinden, was sich in ihrem Inneren verbirgt – ein ganz schön grässliches Kind. Aber als ich acht Jahre alt war, bekam ich zwei großartige Dinge von meinem Vater: ein Mikroskop und einen Chemie-Experimentierkasten. Und das war nicht einfach irgendein gewöhnlicher Experimentierkasten; das war ein echtes, vollständiges und sogar tödliches Chemielabor.
Im Grunde war ich ein autodidaktischer organischer Chemiker. Als ich 11 oder 12 war, hatte ich aus reiner Begeisterung bereits den Stand eines Chemikers im ersten Universitätssemester erreicht. Es hat geknallt und gestunken, ich habe die außergewöhnlichsten Verbindungen hergestellt – und wenn man diese Art angewandte Wissenschaft betreibt, lernt man sehr schnell. Dies ist eine Methode, sich hautnah mit Wissenschaft zu beschäftigen, die heutzutage aus gesundheitlichen und Sicherheitsbedenken absolut unmöglich ist.
Und während der Schulzeit ist nichts geschehen, was Sie von der Wissenschaft abgelenkt oder abgeschreckt hätte?
Ich hatte großartige Lehrer, insbesondere meinen Biologielehrer, Herr Barton. Wenn ich sagte: „Ich möchte wissen, wie ein Seestern von innen aussieht“, dann besorgte er mir einen toten Seestern, damit ich ihn sezieren konnte. Die Schule war also ausgesprochen wichtig, aber sie konnten mit einem Kind arbeiten, das bereits bekehrt worden war – zu diesem Zeitpunkt war ich ohnehin völlig süchtig nach Wissenschaft.
Sie haben nun fast drei Jahrzehnte lang Genetik und menschliche Variation erforscht. Was wissen wir heutzutage über menschliche Variation, das wir vor 30 Jahren nicht wussten?
Die ersten Hilfsmittel, um mit der Erforschung der menschlichen Variation zu beginnen, hatten wir Ende 1977. Davor basierte alles, was wir wussten, auf indirekten Schlussfolgerungen. Wir konnten uns Proteine in Blut oder Speichel anschauen, und durch Untersuchung der Variationen in Genprodukten konnten wir Hinweise auf die Gene selbst erlangen. Vor dreißig Jahren hatten wir jedoch nicht die geringste Vorstellung vom wirklichen Variationsgrad auf der grundlegendsten Ebene von allen: der DNA. Innerhalb von zwei Jahren wurde jedoch klar, dass zwei Menschen sich in vielen, vielen Millionen Stellen in der DNA unterscheiden würden.
Hand in Hand mit dem Humangenomprojektw1 und parallel dazu lief das Humangenomdiversitätsprojektw2. Wir haben nicht nur das wahre Ausmaß der Variation erfahren, sondern auch eine Menge darüber gelernt, wie sie über verschiedene Populationen verteilt ist, und daß fast alle Menschen auf diesem Planeten einen Großteil der genetischen Variation gemein haben. Dies spiegelt einfach wieder, dass wir eine junge Spezies sind, die noch nicht genug Zeit hatte, sich in genetisch verschiedene Unterarten aufzuteilen. Das Projekt hat uns auch gezeigt, dass Afrika die reichhaltigste Quelle genetischer Diversität ist – was zu der Idee paßt, dass die frühe Entwicklung des Menschen in Afrika stattgefunden hat. Das sind wiederum Einsichten, die nicht möglich gewesen wären, ohne sich die DNA anzuschauen.
Doch das andere, was wir durch direkte DNA-Analyse gelernt haben, ist, dass das alte Modell über die Entstehung von DNA-Unterschieden zwischen zwei Menschen völlig falsch war. Man hat die DNA einfach als Buchstabenfolge betrachtet, bei der zwei Individuen sich durch Änderungen einzelner Buchstaben, sogenannter Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (single nucleotide polymorphisms, SNPs) unterscheiden. Heute wissen wir, dass es im Genom nicht nur viele Stellen dieser Einzel-Nukleotid-Polymorphismen gibt, sondern auch, dass das menschliche Genom voller kleiner Deletionen, Duplikationen, Inversionen – kurz, allen Arten von Umgestaltungen steckt. Es gibt sogar kleine DNA-Segmente, die sich selbst an eine andere Stelle kopieren können – die sogenannten transponierbaren Elemente. Diese kleinen molekularen Flöhe, die auf ihrem Wirt, dem menschlichen Genom, herumhüpfen, machen etwa 25-30% des gesamten menschlichen Genoms aus.
Es gibt auch Regionen, in denen sich Segmente der DNA mehrfach wiederholen. Man nennt sie Minisatelliten. Dies sind meine Lieblinge, und sie sind es, die den genetischen Fingerabdruckw3 untermauern. Sie interessieren mich wirklich, weil manche von ihnen so fantastisch variabel sind. Daher werden sie auch für genetische Fingerabdrücke verwendet. Nicht nur das, sondern manche von ihnen können sogar wichtige Ursachen für Erbkrankheiten wie Chorea Huntington (Veitstanz) sein. Diese Krankheit wird durch sich wiederholende DNA-Segmente verursacht, die sich vervielfachen und toxische Genprodukte herstellen, die dann Zellen im Gehirn abtöten. Wir können also direkt die Ursache von Erbkrankheiten betrachten: wir können z.B. von der Mutation, die der häufigste Auslöser für Mukoviszidose (zystische Fibrose) ist, ausgehen und versuchen abzuschätzen, wann sie in der Geschichte der Menschheit zum ersten Mal aufgetaucht ist und wie sie sich dann verbreitet hat.
So hat uns direkte DNA-Analyse etwas über normale Variation, pathologische Variation und den Ursprung pathologischer Veränderungen erzählt; sie hat völlig neue Arten von genetischen Markern hervorgebracht, etwa solche, die für forensische genetische Fingerabdrücke benutzt werden, und sie hat uns eine Menge über die allgemeine Evolution der Arten beigebracht.
Dieses ganze Forschungsgebiet bewegt sich mittlerweile sehr schnell voran. Was erwarten Sie, mit welchen neuen Fragen wir uns im nächsten Jahrzehnt beschäftigen können?
Auf viele Fragen, über die wir in zehn Jahren sprechen werden, ist man bis heute nicht einmal gekommen. Dennoch ist es offensichtlich, dass manche Dinge wichtig sein werden, z.B. die genetische Grundlage häufiger Krankheiten wie Diabetes. Diabetes hat eine genetische Komponente, aber es ist sehr schwierig zu wissen, welche dieser Millionen Orte genetischer Variation das Krankheitsrisiko direkt beeinflussen. Die verursachenden Umwelteinflüsse sind ganz offensichtlich – Bewegungsmangel und schlechte Ernährung – und das kann man schon jetzt ändern: die Menschen können ihr Diabetesrisiko dramatisch verringern ohne über Genetik auch nur nachzudenken. Aber die Genetik würde uns Einsicht in die Mechanismen liefern und das könnte zur Entwicklung neuer Medikamente zur Verringerung des Diabetes-Erkrankungsrisikos führen.
Könnten sie die Unterscheidung zwischen dem genetischen Fingerabdruck und den Arten von DNA-Profilerstellung, die zur Vorhersage von Krankheitsrisiken verwendet werden, erklären?
Mit altmodischen genetischen Fingerabdrücken konnte man ethnische Gruppen nicht unterscheiden oder etwa Haar- und Augenfarbe oder Krankheitsrisiken voraussagen. Bei modernen forensischen DNA-Typisierungs-Systemen stimmt das so nicht mehr: man bekommt schwache Hinweise auf die ethnische Zugehörigkeit und sehr, sehr schwache Hinweise auf spezifische Krankheitsrisiken, insbesondere das für Diabetes.
Die Leute fragen: „Warum entwickeln Sie nicht Hochleistungs-DNA-Typisierungs-Systeme, um der Polizei bei ihren Ermittlungen zu helfen und gleichzeitig Menschen mit Krankheitsrisiken zu erkennen und ihnen zu helfen, die richtigen Entscheidungen für ihr Leben zu treffen?“ Meiner Ansicht nach sollten die polizeiliche und medizinische Nutzung der DNA ganz und gar und völlig getrennt werden. Ich wäre damit einverstanden, wenn die Polizei eine Probe meiner DNA hätte, wenn es für die Ermittlungen in einem bestimmten Fall sachdienlich wäre. Ich wäre allerdings nicht damit einverstanden, dass die Polizei sich Charakteristika meiner DNA anschaut, die für mich als Individuum wichtig sind – das wäre ein Eingriff in meine genetische Privatsphäre. Sobald man die Grenze zwischen forensischer und medizinischer DNA-Nutzung überschreitet, begibt man sich meiner Meinung nach in eine außerordentlich schwierige Situation.
Dies würde die große Erfolgsgeschichte der forensischen Nutzung von DNA untergraben. Die Öffentlichkeit ist im Großen und Ganzen damit einverstanden, dass die Polizei DNA-Proben von Verurteilten behält, analysiert und Datenbanken erstellt. Diese Sympathie würde verfliegen, sobald die Polizei alle möglichen Informationen über Krankheitsrisiken, ethnische Herkunft und Familienverhältnisse der Leute hätte.
Sie waren an einer Studie über Tschernobyl beteiligt. Können Sie uns erklären, was genau Sie gemacht haben und was diese Arbeit ergeben hat?
Das hat sich direkt aus dem genetischen Fingerabdruck ergeben. Die sich wiederholenden DNA-Segmente, die wir für den genetischen Fingerabdruck verwenden, sind hochvariabel, weil sie so instabil sind. Das heißt, bei der Übertragung von Eltern auf ihre Kinder ändern sie sich oft spontan – ganz anders als durchschnittliche menschliche Gene. Wenn man sich ein typisches Gen anschaut, müsste man wohl 10 000 Kinder untersuchen bis man eine neue Mutation findet. Bei diesen DNA-Stückchen trägt jedoch, in Extremfällen, eines von vier Kindern eine neue Version. Man kann sie also sehr einfach erfassen.
Ein Kollege von mir, Yuri Dubrova aus Moskau, hatte die Idee, diese Instabilität dieser DNA-Segmente zu nutzen, um Mutationen zu überwachen. Kann man beispielsweise in Tschernobyl, wo es massive Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt gab, strahlungsinduzierte Mutationen bei Kindern finden? Wir haben einige der Versuche mit Mäusen als Modellsystem gemacht und konnten zeigen, dass sich bei Bestrahlung die Zahl der Mutationen in den sich wiederholenden DNA-Segmenten ihrer Nachkommen häuft. Diese DNA-Stückchen sind also nicht nur spontan sehr instabil, sondern auch sehr strahlungsempfindlich, und daher geben sie uns eine sehr einfache Möglichkeit an die Hand, strahlungsinduzierte Mutationen zu erfassen.
Nachdem wir dies gezeigt hatten, hat Yuri parallel dazu Untersuchungen in Tschernobyl gemacht, wo der Reaktor im April 1986 in die Luft geflogen ist. Er hat dazu Mutter-Vater-Kind-Trios in Weißrussland herangezogen, bei denen das Kind einige Zeit nach dem Unglück geboren ist, beide Eltern dauerhaft in der Gegend gelebt haben und es Informationen über das Strahlungsniveau in ihrer Umgebung gab. Auch hier fand er, dass die Kinder eine erhöhte Anzahl dieser Mutationen tragen und diese Erhöhung in etwa proportional zur Radioaktivität in der Umwelt ist.
Wenn dies nun stimmt, ist es der erste direkte Hinweis auf strahlungsinduzierte vererbbare Mutationen beim Menschen. Großen genetischen Studien an Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki fehlte die Möglichkeit, diese Art Fragestellungen zu beantworten. Wir haben diese Mutationen sowohl bei Mäusen als auch beim Menschen auch bei Strahlungswerten gefunden, bei denen man traditionell annahm, daß sie kein signifikantes genetisches Risiko bergen. Diese Erkenntnis könnte die Grundlagen für Strahlungsgrenzwerte und Risikobewertung in Frage stellen.
Bei Mäusen fanden wir auch ein Phänomen über die Generationen hinweg: und zwar finden sich die strahlungsinduzierten Mutationen nicht nur bei den Nachkommen von Mäusen, die bestrahlt wurden, sondern auch bei deren Enkeln und Urenkeln, obwohl diese nie einer Strahlung ausgesetzt waren. Wir wissen nicht, ob dies auch für den Menschen gilt, aber wenn ja, dann stellen sich hier Fragen über die Auswirkungen von Strahlung – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für ihre nicht verstrahlten Kinder, Enkel und spätere Nachkommen. Falls dieses Phänomen über Generationen hinweg existiert, wie es bei Mäusen der Fall ist.
Ist es noch strittig, was die Ergebnisse dieser Studie genau bedeuten?
Ja, ich muss betonen, dass es noch keinen Konsens über die genauen Auswirkungen auf den Menschen gibt. Ich meine, es gibt Auswirkungen, aber dies sind epidemiologische Ergebnisse, und eines, was man mit Populationsuntersuchungen nie erreichen kann, ist eine Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung. So kann man immer argumentieren, dass diese Ergebnisse vielleicht überhaupt nichts mit Strahlung zu tun haben, sondern dass die Menschen in den am stärksten verseuchten Gebieten vielleicht so nervös waren, dass sie sehr viel geraucht haben und dies die Mutationen ausgelöst hat. Man kann Korrelationen erkennen, aber Ursache und Wirkung wirklich klar festzumachen, um tatsächlich zu erkennen, ob die Strahlung die Ursache ist, ist sehr schwierig.
Das direkteste Experiment, das wir im Folgenden durchgeführt haben – dies verdeutlicht wie verwirrend gerade dieses Forschungsgebiet sein kann – war, Spermaproben von Männern zu sammeln und den Anteil der Spermien war, der die Mutationen trug, zu bestimmen. Dann haben wir die Hoden dieser Männer bestrahlt, eine Weile gewartet, und weitere Spermienproben gesammelt. Nach der Bestrahlung fanden wir überhaupt keine Auswirkung auf die Mutationsrate!
Sie mögen sich wundern, wie wir überhaupt an Freiwillige für diese Untersuchung gekommen sind. Wir haben mit Hodenkrebspatienten gearbeitet; dabei mussten wir einen Patienten finden, der nicht nur Strahlentherapie bekommen würde – daher die Hodenbestrahlung – sondern auch dazu bereit wäre, Spermaproben abzugeben. Auf der ganzen Welt haben wir drei Männer gefunden, die dazu bereit waren. Trotz dieser geringen Zahl konnten wir in dieser Studie eindeutig keine Auswirkung beobachten.
Um es nochmals zusammenzufassen: wir haben in Weißrussland strahlungsinduzierte erbliche Mutationen gefunden, und als die Studie in der nördlichen Ukraine wiederholt wurde, ergab sie dasselbe Ergebnis. Auf einem Versuchsgelände für Nuklearwaffen in Kasachstan mit verseuchten Dörfern wurde derselbe Effekt beobachtet. Untersuchungen an Überlebenden der japanischen Atombomben zeigten keinen Effekt. Direkte Bestrahlung der Hoden zeigte auch keine Auswirkung. Und Studien an Aufräumarbeitern von Tschernobyl und deren Familien hat ebenso keinen Effekt gezeigt. Es gibt also noch keinen Konsens – aber genau so funktioniert Wissenschaft.
Web References
- w1 – Wikipedia-Eintrag zum Humangenomprojekt
- w2 – Englischer Wikipedia-Eintrag zum Humangenomdiversitätsprojekt
- w3 – Wikipedia-Eintrag zum genetischen Fingerabdruck
Resources
- Alec Jeffreys Webseite
- Wikipedia-Eintrag zu Alec Jeffreys
- Das internationale HapMap Projekt ist ein Versuch, eine Haplotypenkarte des Humangenoms zu entwickeln, um genetische Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Menschen zu identifizieren und katalogisieren.
Review
Als Lehrer war ich besonders vom ersten Teil des Artikels beeindruckt, in dem Professor Jeffreys sich an seinen großartigen Biologielehrer erinnert. Dies ist eine wirklich positive Botschaft für gute Biologielehrer.
Immacolata Ercolino, Italien