1000 Jahre verschollene Wissenschaft Understand article
Übersetzt von: Marlene Rau. Yasmin Khan vom Science Museum in London enthüllt die bedeutende Bereicherung unserer modernen Zivilisation durch frühere muslimische Zivilisationen – und plädiert für eine ausgewogenere Herangehensweise an die Wissenschaftsgeschichte.
Isaac Newton, Charles Darwin und Albert Einstein. Wenn Sie sich daran erinnern, welche Wissenschaftler Ihnen in der Schule begegnet sind, werden diese Namen wahrscheinlich auftauchen. Aber wie viele Schüler lernen etwas über Gelehrte aus nichtwestlichen Zivilisationen – wie Ibn al-Haitham, ein muslimischer Forscher, der sich mit Optik beschäftigt und als erster die Gesetze der Lichtreflexion beschrieben sowie im elften Jahrhundert die Lochkamera erfunden hat? Oder Ibn Nafis, der als erster Beobachtungen über den Lungenkreislauf aufgezeichnet hat – eine Theorie, die 300 Jahre später William Harvey zugeschrieben wurde? Und wie steht es mit Abbas ibn Firnas, der im neunten Jahrhundert den ersten menschlichen Flugversuch unternommen hat – mit federbedeckten verstellbaren Flügeln? Und wie viele hätten von Zeng He gehört, dem muslimischen chinesischen General, der vor fünf Jahrhunderten mit raffinierten Technologien eine Flotte aus massiven nichtmetallischen Schiffen konstruierte?
Vielen ist nicht bewußt, in welchem Maße unsere moderne Zivilisation von einer Reihe vergangener großer Zivilisationen bereichert worden ist – und das schließt ein weitgehend nicht anerkanntes und nicht gelehrtes muslimisches Erbe ein. Dieses Erbe ist über die Jahrhunderte Teil der europäischen Mainstream-Kultur geworden und offenbart sich z.B. in unseren geschätzten architektonischen Ikonen wie der Kuppel der St Paul’s Cathedral in London und den hufeisenförmigen Bögen und gotischen Rippen der Al-Hambra in Granada, Spanien.
Selbst unser Sprache zeigt den Einfluß anderer Kulturen: viele in der Wissenschaft gebräuchliche Worte wie Alchemie, Algorithmus, Alkali, Amalgam oder Zero (Null) haben ihre Wurzeln in der arabischen Sprache und bekunden so die wechselseitige kulturelle Verbundenheit, die die westlichen Zivilisationen über viele Jahrhunderte hinweg bereichert hat. Auch die Geschichte der Astronomie offenbart deutliche Beispiele muslimischer Einflüsse, wie in der Namensgebung von Sternen. Beteigeuze, Rigel, Vega, Aldebaran und Fomalhaut z.B. sind Namen arabischen Ursprungs oder arabische Übersetzungen von Ptolemäus‘ griechischen Beschreibungen. Andere Begriffe wie Azimut (al-sumut), Nadir (nazir), und Zenit (al-samt) sind ebenfalls aus dem Arabischen abgeleitet.
All diese Entdeckungen wurden während einer Zeit gemacht, die in historischen Lehrbüchern gemeinhin als das Dunkle Zeitalter fehlgedeutet wird. Tatsächlich war in der muslimischen Welt die Zeit von etwa 600-1600 n.Chr. eine produktive Ära kreativer Forschung in Wissenschaft, Technologie und Ingenieurwesen und eine Zeit des Zivilisationsfortschritts, der später die westliche Renaissance beschleunigen sollte. Unter den europäischen Gelehrten, die tief greifend von muslimischen Forschern beeinflußt und inspiriert wurden waren Roger Bacon, Leonardo da Vinci, Kepler, Michelangelo, Kopernikus, Andreas Vesalius und Galileo Galilei.
Es hat viele Untersuchungen über muslimische Beiträge zu Wissenschaft und Zivilisation gegeben, doch waren deren wissenschaftliche Erkenntnisse bis vor kurzem nur der Fachwelt zugänglich; eine große Hürde für Lehrer und Schüler, die leichtverständliches Material suchen. Vor vier Jahren hat die britische Foundation for Science, Technology and Civilisation (FSTC, Stiftung für Wissenschaft, Technologie und Zivilisation) begonnen, muslimische Beiträge zur modernen Zivilisation auf ihrer Webseite für muslimisches Erbew1 allgemeinverständlich darzustellen. Zum ersten Mal waren, dank des Internet, Informationen über dieses vernachlässigte Zeitalter der Geschichte einem breiteren Publikum leicht und frei zugänglich. Die Webseite wurde schnell zu einer beliebten Informationsquelle über den muslimischen Beitrag zur Wissenschaft – gerade auch für Lehrer und Erzieher, die Verbindungen zur Wissenschaftsgeschichte in ihren Unterricht einbeziehen wollen.
Nach Einführung der Webseite nahm die Nachfrage nach mehr Materialien und Quellen zum Thema schnell zu. Um diese Lücke zu schließen, wurde eine interaktive erzieherische Wanderausstellung über muslimische wissenschaftliche und technologische Entdeckungen, Beiträge und Erfindungen entwickelt. Diese Ausstellung namens 1001 Inventionsw2 (1001 Erfindungen) wurde in England im Museum of Science and Industry (Wissenschafts- und Industriemuseum) in Manchesterw3 dieses Jahr gestartet.
Zum ersten Mal hatten Museumsbesucher, darunter viele Schulgruppen, Gelegenheit, Innovationen aus dem muslimischen Erbe zu entdecken, die oft auch heute noch einen Einfluß auf unser Leben haben. Diese reichen von der Entdeckung des Kaffees als Genussgetränk bis zur Entwicklung ausgeklügelter mechanischer Apparate, wie dem einfachen Düsenantrieb und der Rakete. Wir könnten alle viel von muslimischen Wissenschaftlern, Gelehrten, Universalgelehrten und Pionieren der Vergangenheit lernen, wie vom Mediziner Abul Qasim Al-Zahrawi (im Westen als Abulcasis bekannt) aus dem 10. Jahrhundert, der sein Leben einer Vielzahl unverzichtbarer Erfindungen und Erneuerungen gewidmet hat, von denen die Menschheit noch heute profitiert. Zu seinen Entdeckungen gehören der Gebrauch von Katzendarm als Zwirn in der Chirurgie, z.B. beim Kaiserschnitt, sowie eine Reihe chirurgischer Instrumente, darunter die Geburtszange.
Ein besonderes Stück der Ausstellung ist ein verziertes Manuskript, das muslimische Astronomen bei ihrer Arbeit in einem türkischen Observatorium des 16. Jahrhunderts zeigt, mit traditionellen Roben, Turbans und Bärten. Diese Männer sind vergessene Vorbilder: pflichtbewusste Sterngucker, die beobachten und ihre Beobachtungen notieren, präzise Messungen durchführen und wissenschaftliche Experimente als ehrlichen Ausdruck ihres Glaubens betrachten, auf der Suche nach Wissen, das der Menschheit nützt.
Altruismus und Philanthropie waren so weit verbreitet, daß das goldene Zeitalter der islamischen Wissenschaft über 1000 Jahre andauerte. Es ist strittig, was den Niedergang dieser Periode im 17. Jahrhundert verursachte, aber wir würden Nutzen daraus ziehen, wenn wir Schüler dazu ermuntern – Muslime wie Nichtmuslime – Inspiration in dieser reichen Zivilisation und diesem reichen Erbe zu suchen.
Ich habe einmal gehört, wie eine Naturwissenschaftslehrerin die Beschwerden ihrer Schüler beschrieb: es langweilte sie, etwas über Wissenschaftler zu lernen, die fast alle Männer und von angelsächsischer Herkunft waren. Dies ist symptomatisch für die bestehende Orthodoxie, Geschichte und Wissenschaft durch eine eurozentristische Linse zu betrachten und dabei die Beiträge anderer Zivilisationen zu ignorieren. Lehrer erkennen mittlerweile die Bedeutung eines gut zugänglichen Vorbildes für Schüler, mit dem sie sich identifizieren und zu dem sie sich in Beziehung setzen können. Junge Schülerinnen, die Karrieren in der Wissenschaft anstreben, besonders diejenigen ethnischen Ursprungs, könnten Inspiration in vergessenen Heldinnen der Vergangenheit finden. Beispielsweise in Miriam al-Ijli al-Astrulabi, die komplizierte Astrolabien von Hand fertigte, eine frühe Form des GPS, oder die Unternehmerin Fatima al-Fihri, die im 9. Jahrhundert die älteste Universität der Welt in Marokko gegründet hat.
Initiativen wie das Projekt 1001 Inventions können junge Menschen dazu ermuntern, an der Gesellschaft teilzuhaben und einen Beitrag zu ihr zu leisten. Solche Programme können einen nachhaltigen und positiven Einfluß auf diese und die nächste Generation von Unternehmern, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Ärzten jeder Herkunft haben. Die aktuelle Ausstellung hat bereits die positiven Resultate einer konstruktiven Repräsentation historischer muslimischer Errungenschaften verdeutlicht. Im Juni 2006 hat der Journalist David Bocking, der einen Schulgruppenbesuch der Ausstellung 1001 Inventions begleitet hat, im englischen Times Educational Supplement (Bildungsbeilage der Times) vom ergreifenden Kommentar eines muslimischen Jungen berichtet:
„Wir haben hier viel gelernt“, sagte Hassan Zaffar. „Ich bin Muslime und es inspiriert mich. Man kann zu diesen Menschen aufschauen und stolz auf sie sein. Man möchte hingehen und selbst so etwas leisten.“
Erzieher und Politiker erkennen allmählich die Bedeutung einer akkurateren und umfassenderen Darstellung der Wissenschaftsgeschichte unter Anerkennung der Beiträge von Zivilisationen, die sich lange vor unserer eigenen hervorgetan haben, für die Schulbildung. Die zukünftige Herausforderung für Entwickler naturwissenschaftlicher Curricula wird sein, Wege zu finden, dies in Mainstream-Schulstunden zu integrieren.
Unseren Kindern durch unser Bildungssystem eine umfassendere und ausgewogenere Weltsicht nahe zu bringen ist fundamental für den Erhalt einer harmonischen Koexistenz in unserer Gesellschaft. Eine Verschiebung in Richtung einer ausgeglicheneren Darstellung der Wissenschaftsgeschichte ist ein Schritt in die richtige Richtung. Schüler werden vielleicht aufblühen, wenn sie Ideen und Wissen ausgesetzt sind, die ihnen helfen, ihre Identität zu kultivieren und sie an die verschiedenen Vermächtnisse erinnern, die ihre Welt geformt haben. Diese Vermächtnisse schließen ein gemeinsames und reiches muslimisches Erbe ein, das noch immer in Europa und dem Rest der Welt sichtbar ist. Dieses besondere Erbe mag seit langem vergessen sein, aber es wird nun von all denen wieder entdeckt, die ein Interesse an menschlicher Zivilisation und Fortschritt haben.
Web References
- w1 – Die Webseite für muslimisches Erbe ist eine Online-Community für Bildung, die Muslime und Nichtmuslime zusammenbringt, die die Zivilisation durch das Studium unseres muslimischen Erbes fördern wollen.
- w2 – Eine ausführliche Webseite, die viele Informationen der Ausstellung 1001 Inventions enthält, ist hier verfügbar: www.1001inventions.com
- w3 – Information über das Museum of Science and Industry in Manchester ist hier verfügbar: http://msimanchester.org.uk/
Resources
- Die Foundation for Science Technology and Civilisation ist eine Non-Profit-Organisation, die versucht, den muslimischen Beitrag zum Westen bekannt zu machen.
- 1001 Inventions wurde im Museum of Science and Industry in Manchester bis zum 3. September 2006 gezeigt und wird durch Großbritannien und Europa touren. Weitere Informationen und ein kostenlosen Lehrerpaket zum Herunterladen, zugelassen vom Britischen Verband für die Förderung der Wissenschaft, finden Sie unter: www.1001inventions.com
- Ein Begleitbuch ist ebenfalls erhältlich: Al-Hassani S (2006) 1001 Inventions: Muslim Heritage in Our World. Manchester, UK: FSTC. ISBN: 09555242606
Review
Dieser Artikel ist interessant und angemessen für Naturwissenschaftslehrer, die mit Schülern jeden Alters arbeiten. Wissenschaftsgeschichte ist selten in den Wissenschaftsunterricht integriert (in Großbritannien jedenfalls), und dies ist ein Gebiet, auf dem viele Lehrer begrenztes Fachwissen haben. Dieser Artikel hilft Lehrern, über die allgemein bekannten Wissenschaftler hinaus zu denken, denen die meisten Schüler begegnet sein werden.
Weitere Information und interessante Geschichten über diese muslimischen Wissenschaftler wären eine große Hilfe. Die Webseite 1001 Inventions hat ein ausgezeichnetes Lehrerpaket mit Unterrichtsvorschlägen für einzelne Stunden, das die Diskussion über muslimische Wissenschaftler in häufige schulwissenschaftliche Themen wie Säuren und Basen (Alkali), Licht und Druck einbringt. Da die Unterrichtsvorschläge solche oft unterrichteten Themen behandeln, wird es leicht sein, sie selbst in einen vollen Stundenplan zu integrieren. Dennoch sollte man nicht versuchen, das Paket herunterzuladen, wenn man keinen Breitband-Internetzugang hat.
Sam Hollis, Vereinigtes Königreich